Sujet d’allemand CCIR 2015 LV1 Expression écrite

Mein Land ist weg! Eine Polemik von Christoph Schröder

Mit der Deutschlandfahne und einem Transparent „Deutschland Einig Vaterland“ steht am Silvesterabend des Jahres 1989 ein Mann auf der Terrasse seines Hauses hoch über dem Rhein. Im Hintergrund läuft die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers. « Das vor uns liegende Jahrzehnt kann für unser Volk das glücklichste des Jahrhunderts werden », sagt der Kanzler. Der Mann hört nicht länger hin, sondern verliert sich in seinen Gedanken. Das glücklichste aller Jahrzehnte, so lautet sein Fazit, liegt nicht vor uns, sondern geht gerade zu Ende. Die Achtziger, ausgerechnet, die viel gescholtenen*.

Eine Romanszene, die sich der Schriftsteller Jochen Schimmang für seinen Roman Das Beste, was wir hatten ausgedacht hat. Eine Szene mit hohem Symbolcharakter. Kürzlich war in einem der vielen nun zum 25. Jahrestag des Mauerfalls veröffentlichten Texte zu lesen, es existierte nicht nur das Wort « Westalgie » nicht, sondern auch nicht das dazu gehörende Gefühl. Denn wonach solle man sich sehnen? Ich kann das sehr genau erklären. 

Denn erst jetzt, ganz leise, erheben sich schüchtern die Stimmen, die auszusprechen wagen, was im Bewusstsein einer ganzen Generation als Empfindung, die verteidigt werden muss, vorhanden ist: Auch wir hier im Westen haben in den Jahren nach 1989 unser Land verloren, immer ein Stückchen mehr und mehr. Es ist untergegangen, eliminiert worden und noch dazu verspottet als miefig, eng, spießig und wie sonst die Modeworte der Berliner Republik noch so heißen mögen. […]

« Wir haben unsere Identität verloren », brüllt der Ostchor, « unser Land wurde uns genommen mit seinen Errungenschaften, die Vollbeschäftigung, die Frauenrechte. » Stimmt, das einzige, was geblieben ist, sind Männer: das Ampel- und das Sandmännchen. Das ist doch mal eine Bilanz. 

Ich habe in Bezug auf dieses Land etwas, was manche vielleicht nicht haben. Ich nenne es mein Deutschlandgefühl. Und es ist mir im Grunde komplett abhandengekommen. Die alte Bundesrepublik, in der ich aufgewachsen bin, ist ein friedliches Land und ein schönes. Hessen, irgendwo in der Nähe von Darmstadt. Es ist ein Land, in dem ein einziges höheres Beamtengehalt, das mein Vater bezog, ausreichte, um ein Haus zu bauen, eine vierköpfige Familie zu ernähren, zwei Söhne studieren zu lassen und im Alter keine Sorgen zu haben. So funktionierte dieses Land.[…]

Mein Deutschlandgefühl ist ein Sicherheitsgefühl. Die erste Bedrohung meiner Kindheit war der Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen. Meine konservativen Eltern packten meinen Bruder und mich damals ein und fuhren in den Stadtwald von Mörfelden-Walldorf, wo wir im Hüttendorf saßen, gemeinsam mit den demonstrierenden Umweltschützern, und dem Schriftsteller Peter Härtling zuhörten, wie er aus seinen Büchern vorlas. Das war alles. Hat selbstverständlich nichts genutzt; heute donnern die Flugzeuge im Minutentakt über die Köpfe meiner Eltern (und über meinen). Und wie war das noch mal im Großen? Ein Land, dessen größte Gefährdung in einer Boheme-Guerilla wie der RAF bestand, ist ein glückliches Land. Und dass die DDR dann einen Großteil dieser Witztruppe aufgenommen hat, ist eine weitere ironische Pointe der Geschichte. […] Ich kenne die Einwände: Mir ist vollkommen klar, dass meine Generation, dass wir alle heute für diese Komfortzone bezahlen, die es unseren Eltern ermöglich hat, ihr friedliches, zufriedenes und abgesichertes Leben zu führen (und uns davon unsere Kindheit zu bezahlen) – abstreiten zu wollen, dass es dieses wunderbare Land mit all seinen Vorzügen gab, ist allerdings absurd. […]

Womit wir bei einer, wenn nicht der Symbolfigur unseres schönen untergegangenen Landes (beziehungsweise seiner Endzeit) wären: Es schmerzt mich, diesen stattlichen, wuchtigen und einst mächtigen Mann zu sehen, der von seiner Lebensgefährtin im Rollstuhl durch die Gegend geschoben wird, um seine Lebenserinnerungen zu vermarkten. Ich kann über Helmut Kohl als Politiker nichts sagen, weil Politik mich nicht interessiert. […] Ich kann aber, und das ist Teil meines Deutschlandgefühls, sehr deutlich sagen, dass mir ein katholischer, übergewichtiger, sinnenfroher Pfälzer an der Spitze der Regierung jederzeit lieber ist als ein protestantischer ostdeutscher Prediger und ein Pokerface aus Mecklenburg, dessen Fühlen, Denken und Handeln mir vorkommt, als sei es von einem anderen Stern. Es soll Westdeutsche geben, so wird oft von drüben erschreckt konstatiert, die seien noch nie in den neuen Bundesländern gewesen. Wie solle man sich denn dann ein Bild davon machen? Offen gesagt: Manchmal darf einem das Fremde auch fremd bleiben. Und ich war auch noch nie im Saarland. Aber ich war schon in Thüringen und auf dem flachen, sandigen, Brandenburger Land und muss sagen, dass es gerade dort echt nicht schön aussieht.

Die angebliche westdeutsche Mehrheitskultur, die sich in den vergangenen 25 Jahren durchgesetzt haben soll – ich kann sie nicht sehen. Die Berliner Republik ist für mich eine ostdeutsche Republik, die mit mir wenig bis nichts zu tun hat; ein zentralistischer Staat mit einer Einheitskultur, dessen föderale Struktur nur noch eine reine Verwaltungssache ist; eine aufgekratzt heitere Partyzone, in der man sich selbst feiert, bevölkert von wirtschaftlich prekären Existenzen. […]

Man muss einfach einmal ganz deutlich sagen: Wir Westdeutschen hatten das bessere Land. Wir hatten ein Land, das besser war als die DDR vor der Wiedervereinigung, und wir hatten ein Land, das besser war als das, in dem wir heute leben. Ihr, liebe Ostdeutsche, habt es uns genommen. Dafür könnt Ihr nichts. Aber hin und wieder etwas mehr Demut wäre schon ganz schön.

Zeit.online 28. Oktober 2014 

Répondez en ALLEMAND aux questions suivantes :

(250 mots environ pour chaque réponse)

1. Mit welchen Argumenten behauptet der Autor, die ehemalige BRD sei der Verlierer der Wiedervereinigung?

2. Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Beziehungen zwischen der ‚alten‘ BRD und den sogenannten neuen Ländern 25 Jahre nach dem Fall der Mauer? Geben Sie aktuelle konkrete Beispiele aus den Bereichen Gesellschaft, Politik und Kultur.