Sujet Allemand LV1 BCE 2011 Expression écrite

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BERLIN-MITTE

Von den Hoffnungen und Befürchtungen, die sich mit dem Begriff der Berliner Republik in den Diskussionen der 1990er Jahre verbunden haben, ist nur die beunruhigende Gewissheit von einer neuen Berliner Medienrepublik übrig geblieben. Gründlich widerlegt haben die Berliner Hauptstadtjahre, was sich Umzugsgegner und -befürworter gleichermaßen versprochen haben: dass die Politik näher an die soziale Realität heranrücken würde. Bonn war ein »Raumschiff«, eine abgelegene und abgeschottete Idylle, in der Politiker sich fernhalten konnten von der sozialen Wirklichkeit. Über Helmut Kohls »Menschen draußen im Lande«, so die Hoffnung, sollten Abgeordnete, Ministerialbeamte und Kanzler in Berlin stolpern, sobald sie den Fuß nur vor die Tür setzten: Arbeitslosigkeit, Schulprobleme, Einwanderungsrealität, Schattenwirtschaft, Massenuniversitäten, Unterschichten oder akademisches Prekariat.

Das alles gibt es in Berlin. Aber Berlin ist nicht Berlin-Mitte. Dort, im Zentrum der Macht, muss niemand darüber stolpern. Nicht die Politiker und auch nicht die Journalisten, die über sie berichten.

Berlin-Mitte ist zu einer Bühne von Politik und Medien geworden, die von der Lebenswirklichkeit der Bürger weiter entfernt ist als das legendäre Raumschiff Bonn. Hier regieren, opponieren, debattieren Politiker, wie es ihres Amtes ist. Es recherchieren, berichten, kommentieren Journalisten, Redaktionen, Sender, wie es die Aufgabe der Vierten Gewalt im Staate ist, die Öffentlichkeit schaffen und Kontrolle über die Mächtigen ausüben soll. Die Politiker sind dem Gemeinwohl verpflichtet, dessen Nutzen sie mehren sollen, und zwar durch Entscheidungen, die schwer zu treffen sind, weil sie Zeit, Augenmaß, Überzeugungen und Kompromisse erfordern. Die Journalisten können sich berufen auf das Grundgesetz, das im Artikel 5 die Pressefreiheit garantiert. Ihr eigener Kodex, ihr Berufsethos verpflichtet sie der Wahrheit. Wer sich als Journalist mit Politik beschäftigt, berichtet aus einer Welt, die komplex und voller Widersprüche ist. Journalisten sind verantwortlich für das Bild, das sich die Bürger über diese Wirklichkeit machen. Es soll differenziert, nüchtern und sachlich sein, um das Urteilsvermögen der Bürger zu stärken.

Das alles versuchen in Berlin-Mitte Politiker und Journalisten – und scheitern daran täglich. Zwischen Alex und Siegessäule, Potsdamer Platz und Spreebogen hat sich eine politisch-mediale Welt etabliert, deren Akteure sich ähnlich geworden sind und sich deshalb umso misstrauischer belauern. Manchmal geraten Journalisten in eine Tonlage, die sie noch mehr zu Populisten macht als die Politiker, die auf ihre Wähler achten müssen. Oft passen sich Politiker einem in der Öffentlichkeit vorgegebenen Tempo an, das ihre Sache nicht verträgt, aus persönlicher Eitelkeit oder nur zum Schein, um die öffentliche Maschinerie zu beschäftigen.

Berlin-Mitte ist das Zentrum des politikverdrossenen Deutschland. Politiker und Medien beleuchten und beklatschen sich auf dieser Bühne gegenseitig, als Darsteller, Publikum und Kritiker. Von den Bürgern werden sie als eine selbstgezogene Kaste wahrgenommen, die in einem Boot sitzt, durch eine gleichartige Lebensweise verbunden, auf der sicheren Seite und jenseits der Risiken, die sie in Ausübung ihrer öffentlichen Macht den Bürgern zumuten.

Charakter und Tugend sind wahrscheinlich in jeder Politikergeneration gleich verteilt, ebenso wie der Mangel daran, wie Schlitzohrigkeit, Unehrlichkeit, Anmaßung oder Selbstsucht. Unterschiedlich sind aber die Aufgaben, die Politikern von ihrer Zeit zugewiesen werden, und ebenso die Möglichkeiten und Zwänge, sich ihnen zu stellen. Das Gleiche gilt für Journalisten und Medienmacher.

Die Politikergenerationen sind endgültig abgetreten, denen die große Geschichte – Krieg, Verfolgung, Flucht – noch die Leitlinien für ihr politisches Leben eingeprägt hat. Für demokratische Politik gilt die merkwürdige Doppelweisheit, dass sowohl alles schon immer so war als auch dass früher alles besser war. Politik sei ein »schmutziges Geschäft«, lernten die Schulkinder von ihren Eltern und Lehrern in der Wirtschaftswunderzeit der 50er und 60er Jahre. Es ist gar nicht so leicht, präzise zu sagen, worin sich die Politikverdrossenheit oder der Vertrauensverlust von heute von dieser altbekannten Politikskepsis unterscheidet.

Die Politiker von damals erscheinen natürlich besser als die von heute. Konrad Adenauer und Willy Brandt haben zu ihrer Zeit die bundesdeutsche Öffentlichkeit heftig polarisiert, viel mehr als ihre Nachfolger Gerhard Schröder oder Angela Merkel. Heute sind in den Augen der Deutschen die beiden Alten große Kanzler, milde verklärt durch zeitliche Distanz, charismatische Gestalten, deren Leben und Eigenschaften die Volksphantasie beschäftigen.

Helmut Kohl war der letzte Kanzler, der in der Machtfülle seiner letzten Amtsjahre noch verdrängen konnte, dass seit 1989 eine entgrenzte, globalisierte Ökonomie der nationalen Politik den Rahmen vorgibt und ihr Gestaltungskraft nimmt. Gerhard Schröder war der erste Kanzler der eingeschränkten Möglichkeiten; nicht anders geht es Angela Merkel, so sehr sie sich sonst von ihrem Vorgänger unterscheiden mag. Und beide verbindet ein Weiteres: Sie agieren in einer veränderten Medienwelt. Das ist eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, der neuen Versuchungen für die politischen und medialen Akteure. Sie erst hat Berlin-Mitte ins Bühnenlicht gestellt, macht Journalisten zu Prominenten, verschafft Politikern öffentliche Allgegenwart – und beiden die Möglichkeit, sich hinwegzutäuschen über den Bedeutungsverlust, den Politiker in der globalisierten Welt und politische Journalisten in der digitalisierten erlitten haben.

In Wahrheit sind Politiker und Journalisten Getriebene einer Medienentwicklung, deren Zwänge wie nie zuvor und auf allen Ebenen die Kommunikation und Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten bestimmen und durchdringen.

Bruns, Tissy, Republik der Wichtigtuer

Ein Bericht aus Berlin. Bonn: bpb. 2007, p. 8-11

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1. Welche Kritik übt der Autor an der heutigen Kultur der politischen und medialen Welt?

2. Inwiefern stimmen Sie der Meinung zu, Berlin sei heute das Zentrum Deutschlands?